José Saramagos Roman ‚Die Stadt der Blinden‘ beginnt mit einem erschütternden Moment: Ein Mann erblindert plötzlich im Straßenverkehr – nicht in Schwärze, sondern in blendender Weiße. Was folgt, ist keine gewöhnliche Erzählung über Behinderung, sondern eine tiefgründige Allegorie über die menschliche Gesellschaft und ihre fragile Struktur.
Der portugiesische Literaturnobelpreisträger schuf mit diesem Werk eine verstörende Parabel, die auch 25 Jahre nach ihrer Veröffentlichung nichts von ihrer erschreckenden Aktualität eingebüßt hat. Die plötzlich auftretende ‚weiße Krankheit‘ breitet sich epidemieartig aus und zwingt uns, einen ungeschminkten Blick auf die Grundfesten unserer Zivilisation zu werfen.
Die Epidemie als gesellschaftlicher Spiegel
Saramago entfaltet seine Geschichte mit präziser Beobachtungsgabe. Die mysteriöse Blindheit verbreitet sich rasch in der namenlosen Stadt. Die Regierung reagiert mit Panik und Isolation – die Erkrankten werden in einer verlassenen psychiatrischen Anstalt interniert und unter Quarantäne gestellt. Die anfängliche Ordnung weicht schnell dem Chaos. Hier offenbart sich das Kernthema des Romans: Was passiert mit einer Gesellschaft, wenn ihre Strukturen zerfallen?
Die Anstalt wird zum Mikrokosmos der Gesellschaft, in dem sich verschiedene Gruppierungen bilden. Eine Bande von Blinden übernimmt die Kontrolle, errichtet ein Regime der Gewalt und erpresst die anderen Insassen. Die Dynamik erschreckend vertraut: Wo Rechtsstaatlichkeit fehlt, entstehen schnell autoritäre Strukturen. Saramago zeichnet diesen Prozess mit schonungsloser Klarheit – die Eskalation bis hin zu Gewalt, sexuellem Missbrauch und Mordtaten entwickelt sich mit beklemmender Folgerichtigkeit.
Die Frau, die sehen kann
Inmitten dieser Hölle existiert ein Funke Hoffnung: die Frau des Augenarztes, die als Einzige ihre Sehkraft bewahrt hat. Sie verschweigt ihre Fähigkeit, um bei ihrem Mann bleiben zu können. Diese Figur entwickelt sich zum moralischen Kompass der Handlung – nicht weil sie sehen kann, sondern weil sie trotz ihres Sehvermögens die Menschlichkeit nicht verliert.
Ihre Perspektive ermöglicht uns einen dualen Blick auf das Geschehen: Wir erleben sowohl die äußerlichen Umstände als auch die innere Transformation der Charaktere. Sie führt eine kleine Gruppe durch die Anstalt und später durch die zerstörte Stadt, stets balancierend zwischen Selbsterhalt und Aufopferung für die anderen. Ihre Entscheidungen werfen fundamentale Fragen auf: Welche Verantwortung trägt der Einzelne gegenüber der Gemeinschaft? Wo liegt die Grenze zwischen Selbstschutz und Solidarität?
Sprache als Spiegel der Blindheit
Besonders faszinierend an Saramagos Werk ist der sprachliche Stil, der die inhaltliche Ebene perfekt ergänzt. Der Autor verzichtet weitgehend auf Absätze und Anführungszeichen, lässt Dialoge ineinander übergehen und verwischt die Grenzen zwischen den Sprechern. Diese formale Entscheidung ist kein literarisches Experiment zum Selbstzweck – sie spiegelt die Erfahrungswelt der Blinden wider, für die traditionelle Orientierungspunkte verloren gegangen sind.
Diese stilistische Besonderheit kann anfangs herausfordernd wirken, entwickelt jedoch einen unwiderstehlichen Sog. Die Sprache wird zum Instrument, um uns in den Zustand der Desorientierung hineinzuziehen. Gleichzeitig bleiben Saramagos Sätze von poetischer Schönheit – ein Kontrast zur beschriebenen Brutalität, der die zentralen Widersprüche des Menschseins unterstreicht.
Die Stadt als Charakter
Mit dem Ausbruch aus der Anstalt erweitert sich der Schauplatz. Die namenlose Stadt, nun vollständig von der weißen Seuche erfasst, wird selbst zum Protagonisten. Die verlassenen Straßen, verfallenden Gebäude und mit Müll übersäten Plätze symbolisieren den Zusammenbruch zivilisatorischer Ordnung. Die blinde Menschheit vegetiert zwischen Ruinen, kämpft ums Überleben und formiert sich in stammesähnlichen Strukturen.
Saramago beschreibt diese postapokalyptische Szenerie mit einem dokumentarischen Blick. Die verfallende Infrastruktur spiegelt den moralischen Verfall wider – doch gleichzeitig keimen in dieser Dystopie neue Formen der Gemeinschaft. Die kleine Gruppe um die sehende Frau entwickelt Rituale des Zusammenlebens, der gegenseitigen Unterstützung und der Würde unter unwürdigen Bedingungen.
Gesellschaftskritik ohne einfache Antworten
Die politische Dimension des Romans ist unübersehbar. Saramago, zeitlebens ein gesellschaftskritischer Denker mit marxistischen Wurzeln, nutzt die Allegorie der Blindheit, um fundamentale Schwächen unserer sozialen Ordnung offenzulegen. Die Fragilität staatlicher Institutionen, die Mechanismen des Ausgrenzens und die Dynamik von Machtmissbrauch werden schonungslos analysiert.
Dabei vermeidet der Autor simplifizierende Schuldzuweisungen. Die ‚Bösen‘ im Roman – besonders die Gruppe, die die Kontrolle in der Anstalt übernimmt – werden nicht als eindimensionale Schurken dargestellt, sondern als Menschen, die unter extremen Bedingungen ihre Menschlichkeit verlieren. Die eigentliche Tragödie liegt nicht in der Existenz des Bösen, sondern in seiner Alltäglichkeit und seiner Verführungskraft unter den richtigen Umständen.
Das Ende der Blindheit?
Der Roman endet mit einer überraschenden Wendung, die hier nicht vorweggenommen werden soll. Doch selbst in diesem Moment verweigert Saramago einfache Antworten oder billige Erlösung. Die letzte Seite wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet – genau wie es große Literatur tun sollte.
‚Die Stadt der Blinden‘ ist kein unterhaltsamer Zeitvertreib, sondern eine Herausforderung. Der Text verlangt von uns, unsere eigenen blinden Flecken zu erkennen: die Zerbrechlichkeit unserer gesellschaftlichen Übereinkünfte, die dünne Schicht der Zivilisation und die fortwährende Notwendigkeit, für Menschlichkeit einzustehen.
„Ich glaube nicht, dass wir blind sind, ich glaube, wir sind Sehende, die nicht sehen.“ – José Saramago
Saramagos Roman fordert uns auf, die Augen zu öffnen – für unsere eigene Verletzlichkeit, für die Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen und für die stete Gefahr, dass wir trotz funktionierender Augen blind für das Wesentliche bleiben können. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und globaler Krisen bleibt diese Warnung erschreckend aktuell.

Mein Name ist Anna und meine Leidenschaft gilt der Nachhaltigkeit, der Kunst und der bewundernswerten Schönheit unserer Erde. Als leidenschaftliche Pianistin habe ich erkannt, wie oft Kunst in unserem Alltag übersehen wird. Deshalb habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, sowohl Kunst als auch einen nachhaltigen Lebensstil auf diesem Blog zu fördern und zu feiern. Gemeinsam entdecken wir die Schönheit, die im Einklang mit unserer Welt und in der Erschaffung von Kunst liegt.